Das Jagdrennen für Offiziere, aus dem der Grosse Preis der Stadt Zürich entsteht, ist der sportliche Ursprung der Zürcher Pferderennen. Für die Geschicke des Rennvereins nicht minderbedeutend sind indes die Cross-Countrys, die jeweils zum Schluss eines jeden Renntages auf der Wollishofer Allmend gelaufen werden. Hier finden sich in den Siegerlisten viele der Namen, die die Zürcher Pferdesportszene prägen. Denn schon neun Jahre nach der Gründung des Rennvereins heben dem Pferd wohlgesinnte Freunde auch den Reitclub Zürich aus der Taufe. Der Reitclub erstellt die Rennsprünge unter dem Höckler und unterhält diese aus einer speziell hierfür geschaffenen Kasse während Jahrzehnten in tadellosem Zustand.
Sehr beliebt sind die Cross-Countrys am Schluss eines Renntages.
Ebenso aus demselben Kreis von Reit- und Rennsport-Enthusiasten stammen die Erbauer der Reitanstalt St. Jakob, die sich während Jahrzehnten mit Stolz als das älteste und vornehmste Reitinstitut der Schweiz bezeichnet. Daran erinnert noch immer die Zürcherische Privat-Reitanstalt zu St. Jakob AG, deren Verwaltungsratspräsident der Bankier und Filmproduzent Hans G. Syz-Witmer ist, der Bruder von Sibylle Egloff-Syz vom Gestüt Söhrenhof. Der Reitstall an der Müllerstrasse 18–24 in Zürich Aussersihl freilich wird 1977 zugunsten eines Neubaus der Swisscom abgerissen, der nun seinerseits wieder einem Neubau weichen muss.
Als «Universitätsreitlehrer» übernimmt Charles Kuhn im März 1929 die Leitung der Reitanstalt St. Jakob. Der ehemalige Berufsoffizier ist über Jahre an der Eidgenössischen Pferderegieanstalt in Thun tätig und bestes Beispiel für die Reiterei jener Zeit. Im Sattel sitzen keine auf eine einzige Disziplin fokussierten Spezialisten, sondern Allrounder, die in diversen Sparten tätig sind. Als Springreiter gewinnt Kuhn auf Pepita an den Olympischen Spielen 1928 Einzel-Bronze, als Rennreiter ist er schon 1920 mit dem Steepler Percza erfolgreich. Vor allem aber beweist Kuhn mit seiner Stute Colette beeindruckende Vielseitigkeit: Mit ihr nimmt er teil an Rennen, Skijörings sowie Spring-, Dressur- und Military-Prüfungen. «Man hat in Zürich allen Grund, sich in den breitesten pferdesportlichen Kreisen lebhaft zu freuen über den Entschluss Kuhns, sich fortan in den Dienst der in der Limmatstadt so hochstehenden Herrenreiterei zu stellen», konstatiert die NZZ (31. 3. 1929).
Zu den pferdesportlichen Kreisen zählt auch die Familie Wehrli. Seit dem 18. Jahrhundert geht sie in der Stadt dem Müllerberuf nach. Hans Wehrli, der Vater des gleichnamigen Zürcher Stadtrates (1992–1998), wird als junger Reitoffizier in den Vorstand des Rennvereins berufen. Das sei mehr der Familiengeschichte als seinem sportlichen Können geschuldet gewesen, erinnert sich Wehrli in der RVZ-Chronik von 1972. Denn von Anfang an gehören Mitglieder seiner Familie, die 1913 die alte Brauerei hinter dem Bahnhof Tiefenbrunnen erwirbt und daraus eine grosse Mühle macht, dem Rennverein an.
Als Hans Wehrli dem Vorstand des Rennvereins beitritt, ist der Seidenindustrielle und Kavallerie-Oberst Edwin Schwarzenbach Vereinspräsident. Wehrli hält zu Schwarzenbach und dem Vorstand fest:
«Die gewichtige Persönlichkeit besass in Italien ein eigenes Gestüt und einen kleinen Rennstall. In den Rennen wurden seine Pferde fast ausschliesslich von seinem Freund Walo Gerber geritten. Dieser war ebenfalls Kavallerie-Offizier, daneben noch Militärpilot und Ballonfahrer. Er war bestimmt der einzig wirkliche Allround-Sportsmann, den es je in Zürich gegeben hat. Als solcher stand er beim Publikum in höchster Gunst. Die markanteste Figur auf der Zürcher Richtertribüne war neben diesen beiden der Kavallerie-Oberst Max Hürlimann, dessen Grossvater Oberst Heinrich Wehrli, Gründer der eidgenössischen Pferderegieanstalt in Thun, schon an der Spitze unseres Renngeschehens gestanden hatte. Solche profilierten Persönlichkeiten gaben nicht nur dem Vorstand, sondern dem ganzen Verein ihr Gepräge.»
Die Vorstandssitzungen des Vereins finden in Schwarzenbachs vornehmem Büro an der Bahnhofstrasse statt, an den Renntagen treffen sich die Herren der Rennleitung bei Herrn und Frau Schoeller-von-Planta im Haus «im Grünen» am Parkring 50, wo ein weissbehandschuhter Diener das Mittagessen serviert. Dieses Herkunftsmilieu, das «Gepräge», wie es Wehrli nennt, ist bei Schwarzenbach immanent. 1829 gründet Johannes Schwarzenbach-Landis in Thalwil einen Seidenverlag, für den Heimweberinnen Seidenstoff herstellen. Ab den 1860er-Jahren erfolgt die Umstellung auf mechanisierte Weberei in Fabriken, und als Edwin Schwarzenbach mit seinen Brüdern 1904 die Leitung der Robert Schwarzenbach & Co. übernimmt, ist die Firma ein weltweit führendes Textilunternehmen mit über 5000 Beschäftigten. Alfred Schwarzenbach ist mit Renée Wille verheiratet, der Tochter des Generals, und wohnt auf dem Landgut Bocken oberhalb von Horgen. Edwin Schwarzenbach selber heiratet erst Elsa von Muralt, eine Cousine zweiten Grades von Robert von Muralt, der die Anfänge der Zürcher Rennen mitprägte, und nach deren frühen Tod die Berner Patrizierin Margaretha Thormann. Er hat vier Kinder, darunter James Schwarzenbach. Dieser lanciert Ende der 1960er-Jahre eine Überfremdungsinitiative, die die Schweiz spaltet und in der Familie für Verärgerung sorgt. Neffe François Schwarzenbach erzählt im Juni 2020 in der NZZ:
«Tatsächlich war James Schwarzenbach bis zu seinem Aufstieg als Politiker ziemlich erfolglos geblieben. 1911 geboren und auf dem herrschaftlichen Lindengut in Rüschlikon von Privatlehrern erzogen, litt er früh unter seinem tyrannischen Vater Edwin, einem anglophilen Wirtschaftskapitän, daher der Name James, und Kavallerie-Obersten. Als drittgeborener Sohn kam James nicht für eine Karriere im Textilunternehmen infrage, was möglicherweise zum Bruch mit seinem Herkunftsmilieu führte.»
Edwin Schwarzenbach, RVZ-Präsident von 1912 – 1935
Dass James Schwarzenbach zum Entsetzen der protestantischen und freisinnigen Familie 22-jährig zum Katholizismus konvertiert, Geschichte studiert und Kontakte zu Rechtsextremen pflegt, macht ihn zum Aussenseiter, nicht aber zum Ausgestossenen. Mit 26 Jahren ist er wie sein Vater bereits Rennpferdebesitzer und bietet 1937 dem in etwa gleichaltrigen ungarischen Leutnant Mischa von Czanth einen Ritt auf seinem Hengst Menne im Preis vom Speer an. In dem am 5. September auf der Wollishofer Bahn gelaufenen Jagdrennen sind auch Jockeys zugelassen und der Honvéd-Husar muss sich mit dem krassen Aussenseiter erst nach Kampf dem haushohen Favoriten Roi des Resquilleurs unter dem berühmten Fips von Mossner geschlagen geben. Daran erinnert sich Gaston Delaquis in der RVZ-Chronik von 1972:
«Am Abend dieses ersten Renntages offerierte der grosszügige Rennverein im Grand Hotel Dolder zunächst ein feudales Abendessen für Reiter und Offizielle, dem eine Soirée dansante mit allen dazu gehörenden Damen folgte. Die Holden nahmen es – damals noch – keineswegs übel, dass sie erst zum Kaffee antreten durften, weil sie essenderweise eben das Zürcher Rennvereinsbudget zu stark belastet hätten. Nicht, dass der Leutnant etwa irgendwelche plebejischen Symptome des vom Bankettwein noch erhöhten Alkoholgenusses hätte erkennen lassen, keineswegs! Gegen Ende des Essens wurde er vielleicht etwas einsilbiger, als er’s sonst zu sein pflegte, blieb aber mit jedem Zoll das tadellose Produkt magyarischer Offizierserziehung mit allem dazugehörendem Charme."
Gaston Delaquis stellt sich 1935 erstmals hinter ein Mikrophon und wird
zur Rennbahnstimme der Nation (links). Für den zweiten Platz mit James Schwarzenbachs
Menne erhält Leutnant Mischa von Czanth (rechts) von Walo Gerber einen Ehrenpreis.
Dann kamen die Damen, mit denen man sich zu gemessenem Tanz in den grossen Saal begab. Dem Glanz der Uniformen, dem Schwarz des Smokings setzte das schillernde Bunt der Abendkleider besonders erfreuliche Lichter auf, doch statt zum Tanz marschierten Mischa und James zu neuem Cognac und Menne-Prosit an die Bar. Man sah die beiden nicht mehr, bis Mischa im Foyer neben der Tanzbar bemerkt wurde. Er lehnte in einem Fauteuil wie das Abbild eines – allerdings uniformierten – Engels. Auf den Tisch vor sich hatte er, in vorschriftsmässigem Nebeneinander, Mütze, weisse Handschuhe und erstaunlicherweise auch den Offizierssäbel gelegt, seine Hände stützten sich, lässig gefaltet, auf das überschlagene linke Knie, sein braungebranntes Gesicht mit dem bleistiftschmalen Lippenbärtchen war scheinbar den Tanzenden zugewandt, die Augen aber waren fest geschlossen, Mischa schlief den zutiefst erfreulichen Schlaf des Gerechten.
Das sah auch der Band-Leader des Tanzorchesters, der brüsk den English Waltz abbrach und jauchzend die aufpeitschenden Rhythmen eines meisterlich gespielten ungarischen Csardas erklingen liess. Mischa öffnete ein Auge, das zweite Augenlid hob sich, er sprang auf und mit einer Zielsicherheit ohnegleichen griff er eins der hübschesten Mägdelein in unserem Kreis, hinein riss er die wahrhafte Hingerissene in den unglaublichen Schwung des ungarischen Nationaltanzes, kein Zögern gab’s auf beiden Seiten – und die tänzerisch offenbar hochbegabte Maid machte nicht nur gute, nein wirklich begeisterte Miene zum ebenfalls guten Spiel. Sie in ihrer Holdseligkeit und der Leutnant Czanth in seiner lodernden Husarenleidenschaft boten uns einen Csardas, wie wir ihn kaum zuvor gesehen hatten. Wir klatschten den Takt, wir jubelten und stampften, an Mischas Stiefeletten klirrten die Tanzsporen – dann endete das Brausen der Geigen und Klarinetten. Es schien nun auch in Mischas Seele die Feder abgelaufen, und in ungemein graziöser Pose sank der Leutnant seiner Tänzerin zu Füssen, als wolle er ihr danken. Er dankte aber durchaus nicht, sondern schlief bereits wieder ein. Lilienweisse Damehände betteten ihn neu in einen diesmal der Tanzfläche abgekehrten Lehnstuhl.»
So hinterlässt die rauschende Ballnacht bei den ungarischen Offizieren mehr Spuren, als es die Rennen tun – zum Leidwesen des Rennvereins. Denn die Idee, 1937 den Königlichen Ungarischen Heeresrennstall nach Zürich zu holen, gründet im Glauben, dass das Engagement nicht allzu viel kosten würde. Weil es dem staatlich finanzierten Militärrennsport nicht so sehr um die Höhe der Geldpreise als vielmehr um die Ehre des Sieges geht. Zudem wird von Budapest aus einzig die Bedingung gestellt, dass der Rennverein den Hin- und Rücktransport der Pferde zu bezahlen habe, von dieser Summe aber alle gewonnenen Geldbeträge in Abzug bringen dürfe. Da die Magyaren mit einer respekteinflössenden Streitmacht – vier Pferden, drei Reitern, einem Equipenchef und einem Equipenchef-Stellvertreter – nach Zürich kommen wollen, scheint ihnen der Erfolg sicher und mit der Annahme des Vorschlages kein Risiko verbunden. Allein, die Transportkosten belaufen sich auf den zu jener Zeit astronomischen Betrag von 2400 Franken und der Königlich Ungarische Husaren-Rennstall gewinnt auf Wollishofens grünem Rasen alles in allem 300 Franken. Ganz anders ist es mit der Kavallerieschule Hannover. An deren Pferde muss der Rennverein nichts bezahlen, dafür gewinnen sie ein Jagd- und Hürdenrennen und damit 3200 Franken. Im finalen Höhepunkt aber, dem Grossen Preis der Stadt Zürich von 1937, bleiben Ungarn wie Deutsche geschlagen. Wie schon eine Woche zuvor im Preis von Speer setzt sich wieder Stall Buhofers Schimmelhengst Roi des Resquilleurs durch, der diesmal vom Luzerner Leutnant Hans Kauffmann geritten wird. Leutnant Mischa von Czanth dagegen bringt James Schwarzenbachs Menne nicht ins Ziel – er fällt. Ob es an den Nachwehen des ausgiebigen Cognac-Konsums liegt? Der Grund des Sturzes bleibt im Rennbericht unerwähnt.
Die Zürcher Rennprogramme der Jahre 1921 bis 1924.
Wie 1937 mit den Heeresställen aus Ungarn, Deutschland und Frankreich verzeichnet der Rennverein auch 1938 eine internationale Note. Aus Italien nimmt Capitano Mario Argenton an den Rennen teil, der spätere Präsident des Rennvereins Meran. Im Sattel des neunjährigen Gubbio gewinnt er den GP der Stadt Zürich, wobei er im Rennen die Konkurrenz mit südländischem Temperament auf Distanz hält. Jeden Gegner, der in seine Nähe kommt, beschimpft er lauthals mit «assassino» (Mörder), was bis auf die Tribüne gut zu hören ist. Ein Jahr später nützt ihm das Geschrei aber nicht mehr viel. Auf abgrundtiefem Boden setzen Gubbio und Melnitz mit Hauptmann Pierre Musy im Sattel über den Tribünensprung, den «Bleulergump», wie das Hindernis nach seinem Erbauer heisst. «Assassino» brüllt der Capitano Argenton wieder, «Ta gueule», grunzt Musy zurück, während Melnitz rund eine Länge vor Gubbio landet. Der französische Klassesteepler springt jedes Hindernis besser und beschert Pierre Musy den zweiten Erfolg im Grossen Preis, in dem James Schwarzenbachs Silverline unter dem deutschen Rittmeister Klaus Klewitz auf Platz drei galoppiert. Es wird für geraume Zeit der letzte internationale Finish sein. Die bange Sorge vor der Zukunft sitzt allen bereits im Nacken, als nochmals gemeinsam gefeiert wird. Vier Monate später beginnt der Zweite Weltkrieg.
Links