Jubiläumsbuch Geschichte 5: Sein und Schein

Sonntag, 01. Mai 2022

Sein und Schein 1996 - 2011

Ein Ferrari für zwei Tinguelys

 

«Mit fünf bis sechs Renntagen und einer Preissumme von rund einer Million Franken waren es für uns alle herausfordernde Jahre, wobei die wirtschaftliche Situation in der Jahrtausendwende auch nicht sehr hilfreich war», erinnert sich Fritz von Ballmoos an seine Zeit als Präsident des Rennvereins Zürich zurück und verweist auf den Systemwechsel, der sich damals bezüglich der Finanzierung von sportlichen Anlässen vollzogen hat – weg vom grosszügigen Mäzenatentum hin zum kalkulierten Sponsoring. «Wie viele andere Sportveranstalter hat auch der RVZ lange Zeit von Gönnern und Mäzenen gelebt, die dem Vorstand nahestanden und Investitionen wie finanzielle Engpässe grosszügig à fonds perdu abdeckten. Für ein eigentliches Sportsponsoring mussten aber zuerst die nötigen Konzepte und Infrastrukturen aufgebaut werden. Was wir dabei unterschätzten, war der Faktor Zeit. Die ganze Umstrukturierung dauerte viel länger als vorgesehen. Dadurch mussten wir zwar in einzelnen Jahren Verluste hinnehmen, diese waren für den RVZ aber nie bedrohlich. Dafür war der damals grosse Vorstand mit zu vielen erfolgreichen und verantwortungsvollen Unterneh­mern und Managern bestückt.» Der schwierige Wandel vollzieht sich im Hintergrund und wird gegen aussen kaum wahrgenommen. Schein und Sein divergieren durchaus im positiven Sinn. «Vor allem sportlich, aber auch stimmungs- und zuschauermässig waren es sicher sehr gute Zeiten. Davon profitiert haben nicht nur die Aktiven, sondern der ganze Rennsport partizipierte, in den ja letztendlich die investierten Gelder flossen», summiert von Ballmoos im Rückblick.

 

Eine treibende Kraft ist Vorstandsmitglied und Sponsorenchef Louis Mayer. Mit innovativen Ideen macht er die Rennen zum medialen Ereignis und füllt gleichsam die Kassen des Rennvereins dank rennsportspezifischer Kunst. Mayer ist Zürcher Elektrounternehmer, passionierter Rennpferde­besitzer, dessen Vollblüter immer einen Namen mit der Endung «of Zurich» tragen, und grosser Kunstfreund. In regelmässigen Abständen kauft er Originale von Schweizer Künstlern. Dadurch entsteht die Idee, die Bilder zugunsten des Rennvereins für Plakate, Programmhefte und limitierte Serigrafien von 300 bis 400 Stück zu verwenden. Mit Präsident von Ballmoos und dem Werber Rik Knaus bildet Mayer das Kunstgremium, das sich zum 125-jährigen Bestehen des Vereins im Jahre 1997 einen echten «Mirer» leistet. «Der Faszination Pferd erliegt früher oder später jeder Maler», soll der Bündner Maler dem Gremium bei der Präsentation seiner Entwürfe für die Serigrafie, das Programmheft und das Plakat in Weltformat gesagt haben. Im gewählten Vorschlag findet sich das typische «Mirer-Rot» im Hut der Dame, die die zwei Pferde mit Jockeys anschaut. «Sie soll darauf hinweisen, dass Pferderennen nicht nur ein sportliches, sondern auch ein gesellschaftliches Ereignis sind», kommentiert Rudolf Mirer in der Broschüre zum 125-Jahr-Jubiläum des Rennvereins sein Werk und verspricht: «Das Pferd wird mein Thema bleiben!» Selbstredend sind die handsignierten und nummerierten Exemplare der Serigrafie zum Preis von 400 Franken (exklusive Mehrwertsteuer, Porto und Versand) bald einmal ausverkauft. Vor Mirer hat Louis Mayer für seine Kunstauktion schon Rolf Knie, Hans Falk, Hans Erni, Paul Cartier, Hermann Alfred Sigg oder Jean Tinguely gewinnen können. Tinguely, mit dem Mayer besonders eng verbunden ist, schafft für den Rennverein sogar zwei Serigrafien, wie folgende Geschichte zeigt.

 

Das Plakat zum Jubiläum 125 Jahre Rennverein Zürich gestaltet Rudolf Mirer.

 

In den 1990er Jahren prägen Schweizer Künstler das Bild der Zürcher Pferderennen.

 

Bei Spaghetti und Rotwein

«Jean Tinguely hat nicht nur aussergewöhnliche Werke geschaffen, er war auch ein aussergewöhn­licher Mensch», erinnert sich Mayer an die Begegnungen mit dem genialen Künstler. Die Freund­schaft zwischen ihm und «Jeannot» ist Schritt für Schritt entstanden. Deshalb ist für Mayer mit Blick auf die Kunstaktion klar: «Ein Tinguely muss her, besser noch zwei!» Geschwindigkeit, Pferdestärken und Kampfgeist üben eine grosse Faszination auf den Künstler aus, was sich in dessen Interesse an schnellen Sportdisziplinen spiegelt. Als guter Freund von Formel-1-Rennfahrer Jo Siffert sammelt Tinguely an Autorennen eigenhändig Wrackteile ein und baut aus ihnen bizarre Skulpturen. Mayer weiss auch um die Leidenschaft des Künstlers für Ferrari, für die legendären roten Rennwagen mit dem Logo des springenden Pferdes. Deshalb trifft sich Mayer in Fribourg, wo der Künstler arbeitet und wohnt, zum Spaghetti-Essen in dessen Lieblingsrestaurant. Bei drei Flaschen Rotwein tauschen die beiden Gemeinsamkeiten aus, schnell ist Tinguely von Mayers Idee mit den Pferderennen begeistert. Noch am Wirtshaustisch fängt er gutgelaunt an, auf einen mitgebrachten Karton wilde Skizzen zu zeichnen. Den Rausch der Geschwindigkeit stellt er mit farbigen Filzstiften in Rädern und Kreisen dar. «Dann verrieb er sie mit Spöiz», sagt Mayer lachend. Aus dem mitgebrachten Rennprogramm, das Tinguely als Konzeption dienen sollte, werden kurzerhand Fotoschnitzel ausgeschnitten und auf das entstehende Gemälde geklebt. Das wirre Zahlenspiel mit Pfeilen nach oben steht nach Tinguelys Vorstellung für die Einsätze und Gewinne beim Wetten auf der Rennbahn. Ganz zuletzt setzt er in einem der Kreise noch die Streben eines Lenkrads ein und deutet auf der Nabe das berühmte Ferrari-Emblem mit dem sich aufbäumenden schwarzen Pferd an. So entsteht die erste Serigrafie. Die zweite und ruhigere, wieder mit Pfeilen und Pferdeemblemen und einer weiss-schwarz karierten Siegerflagge, erschafft Tinguely mehrheitlich im Atelier.

Das erste von zwei Tinguely-Bildern entsteht beim Spaghetti-Essen im Restaurant.

 

Eines der letzten Werke

Nach der ersten Begegnung haben Mayer und Tinguely oft Kontakt, sie besuchen sich gegenseitig immer wieder. Mayer erzählt: «Tinguelys Haus mit Atelier war zugemauert, wie ein Bunker. Einige Fenster an der Fassade waren nur aufgemalt. Er lebte spartanisch, schlief auf einer Matratze am Boden und deckte sich nur mit einem gelben Tuch zu. In seinem Garten standen zahlreiche Autos, die er nicht fuhr.» Kommt Tinguely zu Mayer nach Volketswil, fährt er mit einem alten VW-Bus mit Ferrari-Motor vor. Denn der Tüftler, Bastler und Konstrukteur hat diebische Freude, wenn er jeweils mit seinem Bus auch schnelle Sportwagen auf der Autobahn überholen kann. Bei seinen Besuchen bestaunt Tinguely jeweils die beiden Ferraris in Mayers Garage – bis dieser sagt: «Jeannot, hier hast du die Schlüssel für den Testarossa. Jetzt gehört er dir.» Strahlend fährt Tinguely den Ferrari nach Hause und stellt den exklusiven Sportwagen zuhinterst in die Reihe seiner geparkten Autos. Er rührt den Testarossa nie wieder an. «Ausser den beiden Originalen der RVZ-Collagen habe ich einige weitere Bilder von Jeannot bekommen, die mich heute noch an den grossen Künstler erinnern», verrät Mayer zu seinem Tauschgeschäft. Die Collagen für den Rennverein zählen zu den letzten Werken von Jean Tinguely. Er stirbt 1991 wenige Tage vor dem Zürcher Sommerrenntag, an dem er seine beiden wertvollen Serigrafien hätte signieren wollen.

 

Neue Wege aus der Not

2003 übernimmt Dieter Syz das RVZ-Präsidium von Fritz von Ballmoos. Syz, der Mitte der 1990er-Jahre aus dem «gelben Riesen» PTT die Post und die Swisscom formt, ist fortan im Schweizer Pferderennsport als Reformer unterwegs. Durch Schuldenabbau, straffes Kostenmanagement und gezielte Produktivitätssteigerung gelingt ihm und seinem Team innert fünf Jahren die finanzielle Konsolidierung des stark angeschlagenen Vereins. Der RVZ schreibt endlich wieder eine schwarze Null – zu jener Zeit keine Selbstverständlichkeit im schweizerischen und internationalen Vergleich. Das ist aber nicht genug. Ein knapp positives Betriebsergebnis wird je länger, je mehr von Unterhaltskosten aufgefressen, die die in die Jahre gekommene Dielsdorfer Infrastruktur verschlingt. Es sei Handlungsbedarf vorhanden, der Zeitpunkt gekommen, um eine Totalsanierung der Anlage in Angriff zu nehmen, sagt Syz. Der Generalversammlung wird im Frühjahr 2008 ein Businessplan zur Sanierung und zum Ausbau des Pferdesportzentrums präsentiert: In zwei Jahren soll eine erste Verbesserung sichtbar, bis 2014 die bestehende Infrastruktur renoviert, zudem mit einem Hotel, einem Restaurant und möglicherweise sogar mit einer Altersresidenz angereichert sein, um die nachhaltige Sicherung der Pferderennen in verändertem Umfeld zu sichern.  Das veränderte Umfeld ist in Dielsdorf offensichtlich. Das Pferdesportzentrum steht nicht mehr wie einst allein auf weiter Flur. Um die Rennbahn sind auf dem Gemeindegebiet von Dielsdorf und Niederhasli weitere Pferdesportanlagen entstanden, beim Schwimmbad Erlen ist der GC Campus gebaut, ein Golfplatz wird projektiert und von der Gemeinde Niederhasli als Vision und als wünschenswert bezeichnet.

Das Projekt einer Mantelnutzung sieht eine Tribüne mit Hotel und Altersheim vor.

 

Der infrastrukturelle Schulterschluss zwischen diesen Anbietern im sportlichen Freizeitbereich scheint nicht nur logisch, sondern für den RVZ auch sehr willkommen. Er bietet die Möglichkeit, einen allein nicht zu bewältigenden Kraftakt zu wagen. «Unsere Pläne sind bei Behörden und potenziellen Partnern auf Interesse gestossen», sagt Dieter Syz im Wissen darum, unterschiedlichste Wünsche erfüllen zu müssen. Die GC-Fussballer sind vor allem an einem Dreisternehotel mit Massenlager interessiert, weil im Campus solche Unterkunftsmöglichkeiten fehlen, die Golfer an einer Driving-Range innerhalb der Pferderennbahn. Für den Rennverein selber ist eine zeitgemässe Infrastruktur notwendig, um die Rennen zum vielschichtigen und vielbeachteten Gesamterlebnis werden zu lassen. Dabei liegt der Fokus nicht mehr nur auf einem noblen Catering im VIP-Zelt für zahlungs­kräftige Sponsoren. Vizepräsident und OK-Chef Marc Hunziker wie der Marketingverant­wortliche François Foucault forcieren vielmehr Veranstaltungen wie den Kids’ Day, die dazu beitragen sollen, den Züri-Turf als naturnahes und tierfreundliches Erlebnis für die ganze Familie zu etablieren. Was wiederum stimmige Gegebenheiten für die Pferde voraussetzt. «Es bestehen strukturelle Mängel», stellt Syz fest und bemängelt die Unebenheiten der Sandbahn, die fehlende wintertaugliche Allwetterbahn, die zwangsläufigen Störungen des Trainingsbetriebs durch Fremdvermietungen der Anlage. Und nicht unerwähnt bleiben die kantonalen Auflagen, die nur schon bezüglich der Bewässerung des Geläufs Investitionen von bis zu einer Million Franken erfordern.

 

Über Kamelrennen werden Kontakte in den finanzstarken arabischen Raum geknüpft.

 

Rettungsanker Betriebs-AG

Für den Rennsport sieht der Sanierungsplan deshalb den Bau von drei konzentrischen Bahnen vor, je eine Sandpiste für Galopper und Traber, die für Training wie Rennen genutzt werden kann, zudem eine Grasbahn für Galopp- und Trabrennen. Der Wermutstropfen in dieser Planung: Die Jagdbahn müsste dafür geopfert werden. Sanierung und Ausbau der Rennbahn samt Trainingsinfrastruktur werden mit einem Investitionsvolumen von 15 bis 20 Millionen Franken veranschlagt. Bei einem jährlichen Bruttoertrag von rund einer Million Franken beziehungsweise einer Bruttorendite zwischen vier und fünf Prozent bedingt dies kaum oder sehr gering verzinsbare Eigenmittel von mindestens 10 Millionen Franken. Fremdmittel von 10 Millionen Franken müssten über Bank- oder zinsfreie Privatdarlehen beschafft werden. Für Syz ist es jedoch die viel grössere Herausforderung, die behördlichen Auflagen zu erfüllen, speziell auch mit Blick auf das angrenzende Naturschutzgebiet Neeracher Ried. Sind die formalen Hürden erst einmal genommen, die professionellen Partner für den Betrieb des Hotels oder der geplanten Altersresidenz gefunden, dann sollen 250 Galopper im Freizeit- und Sportgebiet Dielsdorf trainiert und bis zu 15 Renntage pro Jahr durchgeführt werden, sehen die verheissungsvollen Pläne vor. Doch die Projektentwickler stossen alsbald an Grenzen: In der Sportzone, in der die Rennbahn liegt, erweist sich eine Mantelnutzung mit Sporthotel und Altersheim als kaum realisierbar. Zudem erschweren die Auswirkungen der Finanzkrise die Suche nach potenziellen Geldgebern. Der Fokus wird deshalb auf die Neugestaltung des Geläufs und eine Nutzung beschränkt, die auch Kamelrennen erlaubt, die Saison 2010 auf vier Veranstaltungstage zusammengestrichen.

 

Aufgrund der angespannten finanziellen Situation entwickelt der Vorstand unter Federführung von Finanzchef Hans-Peter Ess die Idee einer Betriebsgesellschaft in Form einer Aktiengesellschaft, die den Betrieb der Anlage und die Durchführung der Rennen verantwortet und an der der Rennverein zu mindestens 50 Prozent beteiligt ist. Weitere Beteiligungen könnten Investoren angeboten werden, was zu neuem Kapital führt und die Sanierung der Bilanz ermöglicht. Im November 2010 ist der Investor gefunden: die Hippodrome Royal SA des Financiers und ehemaligen Amateurrennreiters Martin Gloor. Dieser informiert im Dezember über seine Pläne, die 139. Generalversammlung des Rennvereins wählt ihn im März 2011 zum neuen Präsidenten und Nachfolger von Dieter Syz – trotz Zweifeln an der tatsächlich vorhandenen Finanzkraft. Die Anlage erhält umgehend ein Facelifting, die geplante Erneuerung aber bleibt nach einer sportlich ansprechenden Saison aus: Unter grossem medialem Trommelwirbel wird der RVZ-Präsident im Dezember 2011 aufgrund einer Strafanzeige wegen Vermögensdelikten verhaftet. Diesmal divergieren Schein und Sein im negativen Sinn, der RVZ hat falsche Pferd gesetzt. Zum Retter in der Not wird Hans-Peter Ess. Er übernimmt das Präsidium und bringt Ordnung in das Chaos.

 


Rennverein Zürich

Neeracherstrasse 20

8157 Dielsdorf

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