Jubiläumsbuch Geschichte 4 - Die Ära Villiger

Dienstag, 29. März 2022

1965 - 1995 Jenseits von Afrika

 

Anfang September 1964 befinden sich Ruedi Villiger und seine Gattin Doris auf dem Flug von Kigali nach Zürich. Während des Zwischenstopps in Rom kauft sich Villiger die NZZ und liest die tragische Nachricht: Durch einen Herzschlag ist Oskar Bürchler 62-jährig aus dem Leben gerissen worden. Das ändert abrupt die Pläne des jungen Paares. Es weiss, dass es kaum mehr nach Ruanda zurückkehren wird. Als erster Vizepräsident muss Ruedi Villiger das unerwartet vakant gewordene Präsidium des Rennvereins Zürich übernehmen, aus dem er vor dem Abstecher nach Afrika eigentlich hat austreten wollen. Allein, er hat vergessen das Austrittsschreiben aufzusetzen. Nun kann er sich nicht einfach aus der Verantwortung stehlen. «So kam plötzlich einiges zusammen», erzählt Doris Villiger aus jener Zeit, in der es für die junge Familie zurück in der Schweiz ja nicht einzig den Rennverein Zürich gibt. 1965 kommt die erste von drei Töchtern zur Welt, das eigene Haus wird gebaut, die Perconcept AG gegründet. «Ruedi hatte den Rennverein, ich die Familie», summiert Doris Villiger bescheiden. Dabei hat sie dank ihrem Flair für Zahlen ihren Gatten auch beruflich immer unterstützt.

 

In Kigali baut Ruedi Villiger in den 1960er Jahren die Genossenschaft Trafipro auf.

 

Beim Globus haben sich Ruedi und Doris Villiger kennengelernt. Er befasst sich im Zentraleinkauf mit dem Sortiment, dem Absatz und den Kundenwünschen von übermorgen, sie lässt als sehr junge Modeeinkäuferin auch die «Swinging Sixties» in die Kollektionen einfliessen. Ruedi Villigers Dynamik ist schon damals legendär und bleibt selbst dem bekannten Schweizer Diplomaten August Rudolf Lindt nicht verborgen, von 1956 bis 1960 Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge. Ob er den Kaffeehandel in Ostafrika zum Wohle der lokalen Bauern im Rahmen eines Entwicklungs­projek­tes neu organisieren wolle, wird Villiger von Lindt gefragt. Natürlich will Villiger, weil dies eine abenteuerliche Herausforderung verspricht. Ein erster Abstecher nach Ruanda bringt Ende 1963 Gewissheit, wie das Vorhaben umzusetzen ist. Nach dem Vorbild Volg (Verband Ostschweizerischer Landwirtschaftlicher Genossenschaften) soll die Genossenschaft Trafipro (Travail, Fidélité, Prospérité) entstehen. Von der Migros ausgemusterte Lastwagen werden nach Mombasa verschifft und von dort die 1500 km nach Kigali gefahren. Ebenso sagt Villigers Arbeitgeber Globus breite Unterstützung zu, Konzernleiter Hans E. Mahler stellt seinen initiativen Mitarbeiter für das Projekt sogar ganze sechs Monate frei.

 

Schicksalshafte Begegnungen

Alles dreht sich also um Afrika, nicht um den Rennverein, der seit der Aufgabe der Wollishofer Rennen nur mehr gesellschaftliche Anlässe organisiert. So geht das Austrittsschreiben vor der Abreise vergessen, zumal es ja noch einen anderen ganz wichtigen Anlass zu organisieren gilt. Im Juli 1964 heiraten Ruedi und Doris Villiger in Kigali. Damals stellen sie sich ihre Zukunft ohne Pferderennen vor – bis es das Schicksal jenseits von Afrika anders meint. Ebenso findet Ruedi Villiger eher schicksalhaft zu den Pferden. In einer persönlichen Aktennotiz hält er zum Stichwort Pferdesport fest: «Nach meiner Matura hatte ich von der Schule genug. Ich trat eine Stelle als Assistent des Finanzchefs der AG R.&E. Huber in Pfäffikon Zürich an. Mit dem ersten Lohn kaufte ich Stiefel und Reithosen und lernte beim Kavallerie-Major Bachofner in Fehraltorf reiten. Dabei lernte ich auch Hansueli Staub, den Sohn des Chefredaktors ‹Schweizer Kavallerist›, kennen. Dieser fragte mich einmal, ob ich Lust hätte, einen Bericht über die am Wochenende stattfindende Springkonkurrenz in Uster zu schreiben. Ich sagte zu. So begann meine Karriere als Pferdesportjournalist, die von 1950 bis 1960 andauerte. Ich schrieb über 300 Artikel für den ‹Schweizer Kavallerist›, für die NZZ, den ‹Tages-Anzeiger› und andere. Das Studium kam dabei nicht zu kurz, und ich hatte einen guten Nebenverdienst.»

 

Ruedi Villiger als Pressechef in St. Gallen (links) und als Arbeitsreiter in St. Moritz (rechts).

 

In Pfäffikon arbeitet Villiger bloss kurz, an der Hochschule in St. Gallen studiert er alsbald Wirtschaftswissenschaften. Er vermerkt in seinen Akten unter dem Stichwort St. Galler Pferdesporttage dazu: «Während meines Studiums in St. Gallen lud mich der berühmte Major Hausamann als Präsident des Rennclubs St. Gallen zu sich ins Büro ein. Er sagte mir, er lese meine Pferdesportartikel regelmässig und sei davon sehr beeindruckt. Ob ich ihm helfen würde, die St. Galler Springkonkurrenz zu einem internationalen Anlass zu entwickeln; er brauche nämlich im OK dafür einen Pressechef. Ich sagte zu und eine faszinierende, unternehmerisch interessante Tätigkeit begann. Bald wurde ich die rechte Hand von Hausamann und arbeitete jedes Jahr mehrere Wochen (Freizeit) an dieser Aufgabe, zu Lasten (teilweise) des Studiums. Unsere Zusammenarbeit wurde so eng, dass Hausamann versuchte, mich nach dem Studium für immer an St. Gallen zu binden. Er offe­rierte mir, seine Foto- und Optikgeschäfte zu führen, einmal seine Nachfolge an den Interna­tio­na­len St. Galler Pferdesporttagen zu übernehmen und an der Hochschule St. Gallen vorerst als Lehrbe­auftragter zu arbeiten. Ich aber wollte nach Zürich und bewarb mich um eine Stelle beim Globus.»

 

Der Bau und die Eröffnung der Dielsdorfer Bahn prägen die Ära Villiger. 

 

So wiederum wird Ueli Prager auf Ruedi Villiger aufmerksam und fragt ihn, ob er Sekretär und Pressechef des Rennvereins Zürich werden wolle. Natürlich will Villiger, 1956 tritt er den neuen Job an. Kaum Sekretär und Pressechef, ist Dr. oec. Rudolf Villiger alsbald erster Vizepräsident und nach der interimistisch übernommenen Vereinsleitung wird er im Herbst 1965 offiziell zum achten Präsidenten des Rennvereins Zürich gewählt. Gegenkandidaten gibt es keine und der einst bedeutende Verein zählt bloss noch 135 Mitglieder. Villiger knüpft seine Wahl deshalb an eine Bedingung: Natürlich will er Präsident werden, doch der Rennverein müsse dafür so schnell als möglich wieder Rennen auf einer eigenen Bahn durchführen. «Ich nahm das Amt an, weil ich absolut keine Lust hatte, einen Gesellschaftsverein zu führen», sagt Villiger in einem Rückblick, «aber grosse Lust, eine Rennbahn zu bauen.» Bald ist von einem passenden Gelände in Dielsdorf die Rede, das im Baurecht für 99 Jahre zur Verfügung steht. 1967 bewilligt die Generalversammlung einen Planungskredit von 12 000 Franken, 1970 wird für den Bau der Dielsdorfer Rennbahn an einer ausserordentlichen Generalversammlung eine Kreditlimite von zwei Millionen Franken gesprochen. Nach 16 Entwürfen, die allesamt Entwürfe bleiben, kann Architekt Theo Laubi endlich konkrete Pläne zeichnen. Diese freilich verkommen auch immer wieder zu Makulatur. Dazu Villiger: «Schon bald zeigte sich, dass die erste Idee, eine Rennbahn mit mehr als vier Millionen Franken Investitionen zu bauen, vom RVZ aus gesehen nicht machbar war. So legten wir uns auf eine Limite von zwei Millionen Franken exklusive Teuerung fest, wohl bewusst, dass damit die Grenzpfähle gesetzt waren und nur ein Projekt mit schärfster Kostenbeschränkung infrage kam. Viele hochfliegende Pläne, grossartige Wünsche und schöne Illusionen landeten damit schon von Anfang an im Eimer.»

 

Faszination Vollblut

Fünf Jahre lang investiert der Rennvereinsvorstand Zeit und Geld. Er lanciert Dutzende Finanzaktionen, in denen Villiger selbst konstant penetrant nach Geldgebern Ausschau hält. Die festliche Einweihung des Dielsdorfer Pferdesportzentrums am 5. Mai 1973 belohnt diesen Tatendrang. «Ich war mir nie zu schade, für ein Werk, das der Öffentlichkeit dient, zu betteln», resümiert Villiger zum Ende seiner Amtszeit, als er mit berechtigtem Stolz und grosser Genugtuung auf das in Dielsdorf Erschaffene schaut. Wohlwissend um das Risiko der Kombination von Rennbahn und Trainingsanlage. «Mitte der 1970er-Jahre bedeuteten die Gebühren für die Benützung der Trainingsinfrastruktur noch die einzigen permanenten Einnahmen, weshalb wir auf eine positive Entwicklung des Schweizer Turfs angewiesen waren. Während der ersten acht Jahre rentierte das Trainingszentrum nicht.» Ruedi Villiger macht sich durch seine fordernde Art auch unbeliebt. Aber selbst grobe Anfeindungen bringen ihn nicht davon ab, den Rennverein und das Pferdesportzentrum wie eine Unternehmung straff zu führen. Auf die Frage nach der Motivation, die ihn während seiner 30-jährigen Präsidentschaft antreibt, muss Ruedi Villiger nicht lange überlegen. «Ich mache es wegen der Vollblüter, die so faszinierende und bewundernswerte Lebewesen sind.» Die Pferde also sind der Motor von Villigers Schaffenskraft, worauf auch der kleine Leitfaden hinweist, den er für die Führungen der an die Rennen eingeladenen Gäste zusammenstellt. Mit Bezug auf die Anfänge der Vollblutzucht in England Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts ist da zu lesen: «Die Züchter hatten schon damals kein anderes Mittel gefunden, um besser, eindeutiger und unwiderlegbarer physische Gesundheit und psychische Widerstandskraft sowie charakterliche Vorzüge eines Pferdes zu prüfen als durch Rennen. Der Schnellste ist König, er soll sich weitervererben!»

 

Vom Vollblut bleibt Ruedi Villiger, rechts mit Frau Doris bei der Verabschiedung als RVZ-Präsident, zeitlebens fasziniert.

 

Mit Blick auf die Rennen als kompetitive Auslese für die Zucht denkt Ruedi Villiger natürlich auch an die Durchführung eines Derbys. Die Lancierung der klassischen Prüfung 1981 in Frauenfeld ärgert ihn bis zum Schluss seiner Amtszeit, trotz aufkommender Altersmilde. In einem Resümee sagt er: «Die Zeit war meiner Meinung nach noch nicht reif für ein Derby, weshalb ich vorerst einige gute Dreijährigen-Rennen ausschreiben wollte. Doch die Vergrösserung der Dielsdorfer Bahn und die Lancierung des Jockey Clubs waren alles Massnahmen, die auf ein Derby in Zürich zielten. Dann aber schrieb plötzlich Frauenfeld das Derby aus, und der Verband bewilligte dies, obschon wir die mündliche Zusage besessen hatten. Darüber war ich damals sehr verärgert, und ich reagierte auch sehr impulsiv. Im Nachhinein muss ich jedoch sagen, dass es sich nicht immer lohnt, sich so aufzuregen. Da verbraucht man nur Energie, die anderweitig wohl besser einzusetzen wäre.»

 

In seinen letzten Jahren braucht Ruedi Villiger die verbleibende Energie für seine Gesundheit. Ein beim Skifahren in Laax zugezogener Beinbruch führt immer wieder zu Komplikationen. Ruedi Villiger beklagt sich aber nie und erträgt wiederkehrende Eingriffe tapfer – bis zur letzten Operation nach einem neuerlichen Sturz im neuen Zuhause in Kilchberg. Am 12. Januar 2015 verstirbt Ruedi Villiger 85-jährig. Die NZZ schreibt: «Das grosse Herz eines Vollblutunternehmers hat aufgehört zu schlagen.»


Rennverein Zürich

Neeracherstrasse 20

8157 Dielsdorf

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